Jüdisches Museum – Judentum erklingt – Ein Erlebnisbericht
Eine wunderbares Tast- und Klangerlebnis
Die neu konzipierte Blindenführung „Judentum erklingt“ im Jüdischen Museum. Ein Erlebnisbericht.
Das Jüdische Museum bietet seit 2023 unter dem Titel „Judentum erklingt“ eine Klang- und Tastführung für blinde und sehbehinderte Menschen an. Das Besondere ist, dass die Führung von einer Expertin für jüdische Geschichte, die selbst fast gänzlich erblindet ist, durchgeführt wird. Wir waren neugierig, wie sich die Führung von anderen unterscheidet, und wir haben sie daher mit einer blinden Testperson besucht. Das Museum war an dem schönen Apriltag sehr gut besucht, so dass wir an einer langen Schlange vorbei mussten, bevor wir durch die Sicherheitskontrollen geleitet wurden. Gleich danach begrüßten uns unsere Museumsführerin und ihre Assistentin im großen Empfangssaal. Die Assistentin trug einen großen verschlossenen Korb mit sich; aber das Geheimnis, was sich darin verbarg, wurde erst später gelüftet. Vom Empfangssaal im alten Teil des Museums ging es über eine der Achsen in den modernen Neubau. Der Weg war etwas verwirrend, auch für sehende Menschen, da man erst mit dem Aufzug herabfahren musste, um dann einen langen Flur aufwärts zu gehen, und dann wieder mit einem zweiten Aufzug in den Teil zu gelangen, in dem die Führung begann.
Jede blinde Person hatte eine Begleitperson dabei; alleine lässt sich das Jüdische Museum wegen seiner verwinkelten Anlage schlecht erschließen. Unsere Museumsführerin begann ihre Tour mit einer kleinen Einführung in die Geschichte und Anlage der Gebäude: Das Gerichtsgebäude des 18. Jahrhunderts war schon zum Museum umgebaut, als das Jüdische Museum seinen Sitz darin bezog. Für den modernen Libeskind-Anbau steht die Idee eines zerbrochenen Judensterns Pate; es kreuzen sich drei Achsen, die verwinkelt angeordnet sind. Insgesamt hat das Museum fünf Epochenräume und acht Themenräume in einer 2020 neu gestalteten Dauerausstellung zu bieten. Außerdem organisiert das Jüdische Museum wechselnde Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst und Kultur. Ein neues Highlight ist das ebenfalls 2020 neu eröffnete Kindermuseum in einem dritten Gebäudekomplex, der unterirdisch zu erreichen ist.
Von dieser ersten Einführung ging es dann zum ersten Klangerlebnis: Es gibt entlang eines längeren Ganges mehrere in Nischen gelegene Klangräume, in denen jüdische Musik abgespielt wird. Die kleinen halbrunden Nischen sind durch lange Vorhänge aus Metallketten abgetrennt, die jedes Mal klirren, wenn jemand den kleinen Raum betritt oder wieder hinausgeht. Wenn man sich setzt und einen Song aus der Audiothek anwählt, erlebt man eine Überraschung: In der Nische ist das Lied nicht nur zu hören, sondern auch zu fühlen; die Bänke vibrieren mit der Musik. Leider erlebten wir noch eine andere Überraschung: just in dem Moment, als wir das angekündigte Hör- und Fühl-Erlebnis erfahren wollten, fiel die technische Anlage aus. So mussten wir uns das Erlebnis nur vorstellen. Wie unsere Führerin erzählte, sind in den verschiedenen Nischen unterschiedliche musikalische Genres zu hören von traditioneller liturgischer Musik über Klezmer bis hin zu israelischen Popsongs.
Dann ging es in den ersten Themenraum über die „Thora“, der Heiligen Schrift der Juden. Unsere Führerin erzählte uns sehr kundig viele Einzelheiten: die Thora der Juden deckt sich mit dem Alten Testament der Christen, sie besteht aus fünf Büchern, dem Tanach. Für die mündliche Überlieferung ist außerdem der Talmud wichtig, in dem die mündlichen Ausführungen und Textauslegungen von verschiedenen Rabbis versammelt sind. Die Thora ist kein gebundenes Buch, sondern sie ist auf ein fortlaufendes langes Pergament geschrieben, das auf zwei Rollen, die am Anfang und am Ende des Pergaments befestigt sind, aufrollt. Das Pergament wird aus sehr fein gegerbtem Rinds- oder Kalbsleder hergestellt. Die Thora wird gelesen, indem auf einer Seite eine Textrolle abgerollt wird und gleichzeitig auf der anderen Seite die andere Rolle aufgerollt wird. Aufgrund der besonderen Bedeutung, die das Heilige Buch im Judentum hat, gibt es den besonderen Beruf des Thoraschreibers. Er mischt z.B. die Tinte an, mit der sie geschrieben wird. Und hier lüftete sich das Geheimnis des Korbes: die Assistentin hob den Deckel und verteilte an jeden ein Stück echtes, dünn gegerbtes Pergament, damit wir selbst mit den Fingern ertasten konnten, wie sich Pergament anfühlt.
Um nicht nur zu sehen, sondern auch zu erfühlen, wie eine Thora aufgebaut ist – eben im Vergleich zu einem Buch ganz anders – wurden uns außerdem zwei kleine Miniatur-Thora in die Hand gegeben. Die Assistentin reichte außerdem ein kleines Holzmodell mit geschnitzter hebräischer Schrift zum Ertasten herum, da sich die hebräischen Buchstaben von den lateinischen unterscheiden. Unsere blinde Begleiterin war sehr angetan von all diesen Objekten, und es ergaben sich beim Ertasten noch eine Menge Fragen. Unsere Führerin erzählte weiter, dass aus Respekt in dem Gotteshaus der Juden, der Synagoge, die Männer eine Kippa tragen. Auch hier bekamen wir passend zu ihren Ausführungen wieder eine echte Kippa zum Fühlen und Ausprobieren in die Hände. Einige waren doch überrascht, wie klein sie ist, und neu für uns war, dass sie nicht wie ein Hut von alleine auf dem Kopf hält, sondern festgesteckt werden muss. Sie wird häufig aus schwarzem Samt genäht, manchmal bestickt, oder kann auch gehäkelt werden. Das unterschiedliche Material der samtenen und bestickten und der gehäkelten Kippa war gut zu erfühlen.
Langsam wanderte unser kleiner Trupp aus blinden Menschen und sehenden Begleitpersonen zu der nächsten thematischen Station: den Jüdischen Speisegesetzen. Die Museumsführerin erklärte uns, was „koscher“ bedeutet, und welche Speisevorschriften es gibt.
Anschließend wurden wieder Tastobjekte herumgereicht, wenn auch naturgemäß kein echtes Essen: Die Assistentin gab unserer blinden Testerin einen Plastikvogel, um zu ertasten bzw. zu erraten, welchen Vogel denn Juden und Jüdinnen auf jeden Fall essen dürfen. In der Praxis gibt es inzwischen viele Varianten und Abstufungen, wie die Speisegesetze in den verschiedenen Familien gehandhabt werden, abgestuft zwischen gar nicht mehr, ein bisschen, nur manchmal, z.B. an religiösen Feiertagen und sehr streng. Die Führung war wieder sehr sinnesorientiert: zu vielen der konkreten Erläuterungen gab es Tastobjekte, auch wenn der Plastikvogel sich seltsam anfühlte, wie unsere blinde Begleitperson schmunzelnd anmerkte.
Ein weiterer Themenraum wartete ebenfalls mit Objekten auf, die man nicht nur angucken durfte, sondern die auch zu ertasten waren: Fünf Miniaturmodelle von deutschen Synagogen, deren reale Vorbilder teilweise während des Nationalsozialismus oder im 2. Weltkrieg zerstört wurden. Bei diesen sehr detaillierten Architekturmodellen hielten wir uns länger auf, um sie zu erfühlen. Damit hatte die Klang- und Tastführung ihre letzte Station erreicht.
Nicht alle Räume des Jüdischen Museums und seiner Dauerausstellung wurden uns während der Führung vorgestellt: so gibt es für Interessierte z.B. noch ein Themenraum über die Geschichte von deutschen Juden im Mittelalter, einen Raum speziell über das Berliner Judentum, in dem prominente jüdische Berliner wie Max Liebermann oder Albert Einstein porträtiert sind, sowie das Thema der Shoah, die Verfolgung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden während des Nationalsozialismus.
Unsere Führung dauerte insgesamt in etwa zwei Stunden. Unsere blinde Begleiterin war sehr zufrieden: Sie lobte, dass der Vortrag in seiner Abfolge sehr gut strukturiert war, dass es weder zu viel noch zu wenig Informationen waren. Auch die Länge war angemessen. Es gefiel ihr, dass es zwischendurch während des Vortrages kurze Pausen und Sitzmöglichkeiten gab, so dass man nicht zwei Stunden am Stück stehen musste. Hervorragend war, dass viele multisensorische Erlebnisse geboten wurden und dass eine selbst fast schwarzblinde Person die Tast- und Klangführung durchführt.
Für die Zukunft sind weitere Innovationen geplant. So ist ein Blindenleitsystem vom Jüdischen Museum angedacht, um das Museum noch attraktiver für blinde und sehbehinderte Menschen zu machen.
Stand 2024