Neptunbrunnen – Audiodeskription
Der Neptunbrunnen steht frei auf einem großen runden Platz zwischen der Marienkirche und dem Roten Rathaus. In der Mitte des Brunnens thront auf einem Felssockel Neptun, der antike römische Wassergott. Er sitzt in einer Muschelschale, die von vier Tritonen – das sind Mischwesen aus Menschen und Tier – getragen wird. Auf dem Felssockel und in der Schale tummeln sich außerdem sogenannte Putten und verschiedene Wassertiere, darunter ein Hummer und Seesterne. In der Brunnenschale, die aus rotem Granit besteht, „leben“ weitere Wasser- und Flusstiere, die (in der Saison) mächtige Wasserfontänen in Richtung Felssockel mit dem Neptun speien: eine Schildkröte, ein Seehund, ein Krokodil und eine Schlange. Auf dem Brunnenrand sitzen vier Frauengestalten. Sie personifizieren vier mitteleuropäische Ströme und die Landschaften, durch die sie fließen: die Elbe, den Oder, den Rhein und die Weichsel.
Der Durchmesser der Brunnenschale beträgt 18 Meter. Wenn man das zirka zwei Meter breite und zehn Zentimeter hohe kreisförmige Fundament aus schwarzem Granit hinzurechnet, dass die Brunnenschale umgibt, so kann man sogar von einem Durchmesser des Brunnens von 20 Metern ausgehen. Seine größte Höhe, zehn Meter, erreicht er mit der Spitze des Dreizacks, den sich Neptun als Symbol seiner Macht über die linke Schulter geworfen hat. Alle Figuren sind aus Bronze gegossen und durch eine künstliche hellgrüne Patina hervorgehoben.
Beginnen wir den Brunnen im Detail zu betrachten, indem wir uns Neptun von Angesicht zu Angesicht gegenüberstellen; im Rücken haben wir das Rote Rathaus, vor uns befindet sich, hinter dem Brunnen, die Marienkirche. Die Gestalt des antiken Wassergotts ist etwa vier Meter groß, mit dem Dreizack fünfeinhalb Meter. Neptun sitzt aufrecht in der Muschelschale. Der muskulöse Oberkörper, der im Bauchbereich etwas zur Fülle neigt, ist frei, lediglich der Schoß und die Oberschenkel sind von einem Fischernetz bedeckt. Seine gesamte Haltung drückt Stolz und Selbstbewusstsein aus. Das rechte Bein drückt er kraftvoll gegen den Innenrand der Muschelschale, das linke Bein pendelt eher spielerisch über diesen Rand. Die linke Hand hat er in Hüfte gestemmt, die rechte Hand umfasst den Griff des Dreizacks. Der Dreizack, in der Mythologie das Symbol der göttlichen Macht, ist ein drei Meter langer Schaft mit einer gabelförmigen Spitze mit drei Zinken. Die mittlere Zinke ist länger als die beiden äußeren, und nur sie ist mit einem Widerhaken versehen. Vom unteren Teil des Gesichtes des Wassergottes ist nicht viel zu sehen, Mund und Kinn sind unter einem dichten, bis auf die nackte Brust fallenden Bart verborgen. Die Mundwinkel, soweit zu erkennen, wirken etwas nach unten verzogen. Aus dem oberen Teil des Gesichtes ragt die große, kräftige Nase heraus. Der Kopf ist von einem dichten Haarschopf bedeckt, bei einem Menschen würden wir heutzutage von einer „wilden Mähne“ sprechen. Am Hervorstechendsten sind seine Augen. Sie blicken drohend, abweisend, finster. Drohend, aber nicht bedrohlich. Will sagen, der Blick wendet sich nicht dem Betrachter oder Gegenüber zu, warnt oder verfolgt ihn, sondern er geht in die Ferne. Vielleicht ist mit etwas Phantasie sogar ein wenig Sehnsucht darin zu erkennen, Sehnsucht nach dem Meer, nach dem alten Rom?
Nun zu dem Felssockel, auf dem Neptun in der Muschelschale thront. Er besitzt einen Durchmesser von etwa acht Metern (die gesamte Brunnenschale, wir erinnern uns, 18 Meter) und eine Höhe von zirka vier bis fünf Metern. Er ist ebenfalls aus rotem Granit gefertigt. Gefertigt ist hier wohl das zutreffende Wort, denn der Sockel ist aus verschiedenen Brocken und Steinen zusammengesetzt. Wir finden diese Felsen mit ihren scharfen Ecken und Kanten in der Natur häufig an Meeresküsten, wo starker Wellengang herrscht und das Salzwasser an den Felsen nagt und seine Spuren hinterlässt. Die Wassertiere, die wir auf dem Felssockel entdecken können, sind Hummer, Fische, Krebse und Seesterne. Allein der Hummer am Fuße des Sockels ist eine Attraktion. Mit seiner Körperlänge von 30, 35 Zentimetern, den dünnen Schwimmbeinen und den glatten, kräftigen und furchteinflößenden Scheren (die ja auch nichts anderes als Beine sind), ist er so naturgetreu nachgebildet, dass man fast den Eindruck bekommt, als lebte er. Auf den Felssockel ist die Muschelschale aufgesetzt oder anders ausgedrückt, wird sie von den vier Tritonen in die Höhe gehoben (diese Vorstellung will zumindest der Künstler vermitteln). Die flache Schale mit ihrer gewellten Oberfläche hat einen Durchmesser von acht Metern, ähnlich dem Fuß des Sockels.
Was sind Tritonen? Triton ist eigentlich ein Meeresgott in der griechischen Mythologie mit dem Oberkörper eines Menschen und mit den Vorderbeinen eines Pferdes. Sein Unterkörper ähnelt einem Delphin. In der Kunst, insbesondere in der Brunnenbaukunst, wird er gern als Vorbild für Mischwesen aus Menschen und Tier genommen. Die Tritonen „unseres“ Neptunbrunnens sind zirka drei Meter groß. Auch sie besitzen menschliche Oberkörper „mit allem, was dazugehört“, also mit Bauch, Brust, Schulter und Armen. Ihre beiden Pferdebeine ragen aus der Hüfte heraus, sie sind allerdings nicht mit Hufen, sondern mit Flossen versehen. Mit ihrem fischähnlichen Unterkörper stehen sie fest auf dem Sockel, drücken ihre Rücken gegen den Felsen und spannen alle Muskeln an, um die vermutlich sehr schwere Muschelschale mit Neptun darin mit ihren kräftigen Armen in die Höhe zu stemmen. Die Anstrengung ist ihren Gesichtern deutlich anzumerken; ihre Mienen und ihr Blick verraten, dass sie sich ganz auf den Kraftakt konzentrieren.
Für Abwechslung in der Mitte des Brunnens sorgen die Putten. Das sind nackte Kindergestalten, die vorwiegend in der Malerei und Skulptur des Barock Verwendung fanden. Sie sind etwa einen Meter groß, haben dicke Wangen und sind mit viel „Babyspeck“ versehen. Die Einzahl lautet Putto oder Putte. Man könnte auch von pummeligen Kleinkindern sprechen. Und wie mutwillige, unbekümmerte Kinder verhalten sich die Putten, die auf dem Neptunbrunnen zu Hause sind, auch. Drei von ihnen tummeln sich in der Muschelschale. Der Putto links vom Wassergott lagert auf dem Rücken und sieht zu Neptun empor (huldigt er dem göttlichen Herrscher mit dieser Haltung oder foppt er ihn in aller Unschuld?), der Putto rechts schaut in die gleiche unbestimmte Richtung wie der Wassergott, und der Putto im Rücken Neptuns gießt sich derweil aus einer Amphore Wasser über den Kopf. Nicht zu vergessen Numero Vier, das ist der Putto, der, sich mit den Armen abstützend, auf dem Podex den Felssockel hinunter zu rutschen oder hinunter zu klettern scheint (er sieht noch etwas unschlüssig aus).
Wenden wir uns jetzt den Fluss- und Wassertieren zu, die in der Brunnenschale im Wasser zu finden sind. Im Uhrzeigersinn sind das das Krokodil, die Schildkröte, der Seehund und die Schlange. Alle vier Figuren bestehen aus Bronze, sind zirka einen Meter groß und sitzen, hocken oder liegen auf einem Stein oder Felsen. Ihre Antlitze sind der Brunnenmitte zugewandt, und aus ihren Mäulern schießen unaufhörlich im hohen Bogen Wasserfontänen in Richtung des Felssockels mit der Muschelschale und dem Neptun. Der Eindruck, dass sich diese Tiere nicht „wild durcheinander“ in dem Brunnen tummeln, sondern in „schöner Regelmäßigkeit“ angeordnet sind, kommt nicht von ungefähr. Wenn wir von oben auf den Brunnen hinunter gucken würden, so würden wir feststellen, dass er nicht aus einer einzigen Schale besteht, sondern aus vier Kreisbögen mit gleichen Radien, aus vier einzelnen Brunnenschalen sozusagen. Und in jedem dieser Kreisbögen befindet sich ein Tier. In der Brunnenbaukunst nennt man das eine Vierpass-Brunnenschale. Stellvertretend für diese vier Tiere sei die Schlange – das ist die Figur rechts vor dem Felssockel mit dem Neptun – hier näher beschrieben. Die Schlange ist etwa drei bis vier Meter lang und sieben, acht Zentimeter „breit“ (bei einer Schlange nennt man das wohl Umfang). Ihr runder, schuppiger Körper windet sich kraftvoll und elegant an dem Felsen, auf dem sie sitzt, empor. Auf Grund ihrer Größe kann man sicherlich von einer Giftschlange ausgehen; man möchte ihr jedenfalls nicht zu nahekommen. Ihren schlanken Hals und ihren schmalen Kopf, an dem sogar aus der Entfernung die zugekniffenen listigen Augen und die scharfen Zähne zu erkennen sind, reckt sie dem Gott Neptun auf dem Felssockel entgegen, so als wolle sie ihm sagen: Ich gehöre Dir! Zu beiden Seiten der Schlange – und auch der anderen Figuren – sind Scheinwerfer im Boden angebracht, deren Lichtstrahlen in der warmen Jahreszeit, wenn der Brunnen „angeschaltet“ ist, im Zusammenspiel mit den Wasserfontänen abends und nachts ein beeindruckendes Schauspiel ergeben.
Nähern wir uns zum Abschluss der Brunnenschale. Sie ist etwa 30 Zentimeter hoch (kniehoch), 20 Zentimeter breit und besitzt eine abgerundete Oberfläche, auf der man bequem sitzen kann. Sie besteht aus rotem poliertem Granit. Die beiden niedrigen, etwa zehn Zentimeter breiten Stufen, die vom Fundament des Brunnens zu ihr hinaufführen, sind aus grauem Granit. Am Rande der Schale sitzen jeweils im Abstand von etwa zehn Metern vier zirka drei Meter 30 große weibliche Gestalten: die Elbe, die Oder, die Weichsel und der Rhein (im Uhrzeigersinn).
Gemeinsam sind den vier Frauen der versonnene, träumerische Blick, die spärliche Bekleidung, die üppige Gestalt und die entspannte Pose. Außerdem hat jede von ihnen eine Vase in der Form einer antiken Amphora, eines bauchigen enghalsigen Gefäßes mit zwei Henkeln, bei sich, aus der Wasser in den Brunnen fließt (siehe bzw. höre Tastführung der Gestalt „Oder“). Verschieden sind allerdings die Gegenstände, die den Frauenfiguren neben den Vasen vom Künstler mitgegeben wurden und die nicht nur die Ströme, nach denen sie benannt sind, sondern auch die Landschaften, durch die diese Ströme fließen, symbolisieren. Bei der Elbe finden wir eine Sichel, Ähren und Früchte, bei der Oder einen Ziegenbock und ein Ziegenfell, bei der Weichsel Holzklötze als Symbol für die sie umgebenden Wälder und bei der Figur Rhein ein Fischernetz und Weintrauben.
Abschied vom Neptunbrunnen. Eine Vielzahl von Eindrücken, die wir gewonnen und von Informationen, die wir bekommen haben: die granitene Brunnenschale, die vier Frauenfiguren Oder, Elbe, Weichsel und Rhein sitzend auf ihrem Rand, die vier wasserspeienden Meerestiere – Krokodil, Seehund, Schlange und Schildkröte … Dann in der Mitte des Brunnens der Felssockel mit den vier Tritonen, halb Mensch, halb Tier, die die schwere Muschelschale in die Höhe stemmen … Und in der Muschelschale schließlich Neptun, der antike Meeresgott, mit seinem muskulösen Körper, dem finsteren Gesicht, dem Dreizack über der Schulter. Diese Fülle kann niemand während einer Besichtigung erfassen, begreifen, verarbeiten, abspeichern. Doch das macht nichts, er kann ja nicht weglaufen, der Neptun, und wir können wiederkommen, in der nächsten Woche, im nächsten Monat, im nächsten Jahr…
Stand 2021