Das Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds oder „Willy bekommt einen Irokesenschnitt“

von Jessica Schröder.

Brad Pitt schmilzt unter der Berührung Deiner Hände dahin. Du schmust mit Robbie Williams auf der Couch und gleich darauf streichst Du John Lennon zärtlich durchs Haar.

Nein, Du bist in keinem Traum, sondern im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussauds in Berlin. Hier stehen sie, die namhaften Größen aus Politik, Musik- und Showbiz einträchtig in Wachs verewigt beisammen und warten nur darauf, von dir begriffen und entdeckt zu werden.

Auch Sandra und mich lockte es an einem brüllend heißen Augusttag in das Wachsfigurenkabinett, das ähnlich wie das gleichnamige Museum in London aufgebaut und gestaltet wurde. In der S-Bahn, in der sich die Menschen fast stapelten und in der es fast so heiß wie einem kochender Wasserkessel war, fragte ich mich, ob die Figuren nicht allesamt wegschmelzen müssten bei so einer Hitze. Denn schließlich sind sie aus Wachs, das ja die Angewohnheit hat, sich bei hohen Temperaturen zu verflüssigen.

Was, wenn sich Karl Marx unter meiner heißen Hand verflüssigt und nur seine Löwenmähne bleibt? Von Sigmund Freud nur die Brille? Von Walter Ulbricht nur der Ziegenbart? Überflüssige Gedanken!

Alle Figuren standen oder saßen frisch und topp in Form auf ihren Plätzen und zeigten nicht die Spur von Verweichlichung. Der Sommer und die Hitze können ihnen nichts anhaben.
Wie überrascht war ich, als ich Klaus Wowereit unserem Bürgermeister mit der Hand über seine wächserne Wange strich. Ich erwartete nämlich eine glatte, ebenmäßige Wange zu erfühlen, da sich eine Wachskerze ja auch meist glatt und geschmeidig anfühlt. Das Wachs war jedoch nicht ebenmäßig und glatt, sondern etwas rauh und ein wenig hölzern. Mich erinnerte das Material sehr an die Beschaffenheit von Schaufensterpuppen. Haare, Augenbrauen und Wimpern fühlten sich aber täuschend echt an und ich hatte viel Freude daran Wowie durchs Haar zu wuscheln.

Dem Willi Brandt habe ich später noch seine ordentlich nach hinten gekämmte Frisur versaut. Herr Brandt hat kurzes, nach hinten gekämmtes Haar. Einen Pony hat er nicht, aber wenn man sich Mühe gibt, kann man den Haarschopf der sich einige Zentimeter über der Stirn befindet, zu einem Irokesenschnitt formen. So habe ich aus dem  ehrwürdigen Sozialdemokraten für einige Minuten einen halbwegs passablen Punker gemacht.
Die Museumsangestellten waren jedoch gleich zur Stelle und haben die Frisur vom wilden Willy schnell wieder zu der des Staatsmanns Brandt zurechtgekämmt. Also lasst lieber die Spielereien mit den Haaren berühmter Leute.

Auf einer Informationstafel hat mir Sandra dann später vorgelesen, dass die Haare, Augenbrauen und Bärte der Wachsfiguren aus echtem Menschenhaar gefertigt wurden. Wer dafür wohl seinen Kopf hingehalten hat?
Nicht weit von Willy Brandt steht einer der Staatsratsvorsitzenden der DDR, Walter Ulbricht, dessen Absicht es nie war, eine Mauer zu errichten. Eine Hand hält er hinter seinem Rücken, als wolle er etwas verbergen. Mit der anderen stützt er sich von der Wand ab. Oder stützt er die Mauer? Na ja gut, vielleicht etwas sehr weit hergeholt, aber das kam mir so in den Sinn, als meine Hände den Genossen Ulbricht in Beschlag nahmen.
Sein Vorbild Karl Marx, der ganz in der Nähe herumsitzt, beeindruckte mich besonders. Sein großer voller Rauschebart, der sein ganzes Gesicht bedeckt und ihm bis zur Brust reicht, erinnerte mich sehr an den Weihnachtsmann. Ich hab mich dann auch kurz mal auf den Schoß des Vaters des Kommunismus gesetzt, um mit ihm ein bisschen über kommunistische Theorien, den  Kapitalismus und die Industrialisierungskritik zu diskutieren. Er hörte mir interessiert, aber äußerst wortkarg zu.
Auch Angela Merkel ist in der politischen Abteilung des Wachsfigurenkabinetts vertreten. Gut fühlbar ihr rundliches Gesicht, der Rundhaarschnitt mit den hinter die Ohren geklemmten Haaren und ihre auf dem Rednerpult ineinander verschränkten Hände. Ihre Frisur wirkt ein wenig aufgeplustert. „Voller Volumen“ würde der Kenner sagen.

Die Frisuren der Figuren werden täglich aufgebessert und ihre Haare werden regelmäßig gewaschen. Fast wie im echten Leben. Auch den Dalailama und den Papst habe ich unter meine Hände genommen. Der Dalailama trägt ein aufwendiges Gewand, das mit Hilfe einer für mich sehr verwirrenden Wickeltechnik um seinen Körper geschlungen ist. Beide, Papst und Dalailama, tragen Religionssymbole: Kreuz und Gebetsperlen in Form von Ketten an Arm und Hals.
Ein Stockwerk höher, das wir bequem per Aufzug erreichten, erwarten uns die wächsernen Pop- und Filmgrößen. Ich erfühlte den konzentrierten und etwas verbissenen Gesichtsausdruck von Ludwig van Beethoven, der vor allem durch seinen schmalen zusammengekniffenen Mund deutlich wird. Seine Notenblätter und die Schreibfeder, die er in den Händen hält. Im Gegensatz dazu das taktile Bild des Rock-Popsängers Robbie Williams: Der sitzt nämlich ganz relaxed auf einem großen Sofa. Seine Turnschuhe auf dem Sofa! Wenn das Mutti wüsste!

Genug Platz ist neben ihm, so dass du dich bequem dazu lümmeln und ganz schmusig den Kopf an Robbys wächserne Brust legen kannst. Ich fand es jedenfalls sehr gemütlich mit Herrn Williams auf der Couch zu chillen.
Als ich genug herumgelümmelt hatte, starteten wir zu den Beatles durch. Ringo, Paul, John und George sitzen einträchtig nebeneinander und die Gitarristen haben sogar eine echte Gitarre im Arm.
Nicht weit entfernt steht ein echtes Schlagzeug, dass vielleicht für Ringo Star bestimmt ist. Ich hab mich auch einmal ganz stümperhaft und dilettantisch an ihm ausprobiert und da ist in mir wieder einmal der heimliche Wunsch aufgetaucht, einmal in einer Band zu spielen.
Außerdem amüsierten mich die etwas gewölbten Wangen von Frauenrechtlerin Alice Schwarzer. Da sie dem Besucher feministisch zulächelt, verformt sich natürlich auch ein wenig das Gesicht. So wird ein Lächeln nicht nur sicht- sondern auch greifbar.

Trotz aller Freude und Faszination gibt es doch bestimmte physiognomische Merkmale, die den Händen verborgen bleiben. Meine Freundin beschreibt das Gesicht von Brad Pitt, als gleichzeitig männlich und knabenhaft weich. Das knabenhafte Weiche konnte ich jedoch in seinem Gesicht nicht ausmachen. Weiche oder strenge Züge, frische oder fahle Blässe eines Gesichts sind taktil nicht erfassbar und werden für mich immer unsichtbar bleiben.
Trotzdem hat es mir viel Spaß gemacht, die vielen Berühmtheiten per Hand ins Visier zu nehmen, ihnen den Schlips aus dem Hemd zu ziehen oder ihnen das Haar zu zerzausen. Außerdem solltet ihr euch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, euch mit eurem Lieblingsidol ablichten zu lassen. Eure Freunde werden vor Neid erblassen!

Stand 2022