Der Modellpark Berlin Brandenburg oder „Mit den Händen durch Berlin und Brandenburg“
Als ich 15 war, habe ich mit meiner damaligen Schulklasse einen Ausflug nach Berlin unternommen. Ich wohnte damals noch in Neukloster (Mecklenburg) und kannte die große Stadt Berlin mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten nur vom Hörensagen. Wie sich das gehört, klapperten wir alle Touristenattraktionen Berlins ab. Darunter durfte natürlich auch das Brandenburger Tor nicht fehlen. Alle meine Mitschüler waren begeistert von der Quadriga, die auf dem Brandenburger Tor steht und den 4 Pferden, die den Wagen mit der Siegesgöttin Victoria ziehen. Ich jedoch hatte nichts von der Quadriga, nichts von der Siegesgöttin und den Ornamenten des Brandenburger Tors, weil ich die Einzige war, die das alles nicht sehen konnte. Mir blieb nur der Griff an eine Sandsteinsäule, die den Eingang eines Tores schmückt.
Mit dem Besuch im Modellpark, den ich vor einiger Zeit unternahm, wurde es mir zum ersten Mal möglich, Bauwerke, die ich sonst nur durch Beschreibungen Sehender zugänglich gemacht bekam oder nur in Bruchstücken ertasten konnte, in ihrer Ganzheit taktil zu erfahren.
Der Modellpark liegt in der Wulheide mitten im Grünen. Kein Autolärm und Gestank und keine hektischen Menschenmassen stören die Freude am Ertasten und Erleben der Bauwerke. Hier gibt es kein Gefühl der Enge und Beklemmung. Für mich persönlich war das sehr wichtig, weil ich so immer genug Zeit und auch Bewegungsfreiheit hatte, alles in Ruhe zu ertasten. Im Modellpark stehen verschiedene Sehenswürdigkeiten aus Berlin und Brandenburg, die detailgetreu nachgebaut wurden. Meist ist es ja so, dass nur das Auge kleine Details wahrnimmt, aber bei diesen Modellen waren die Feinheiten eines Bauwerkes auch für die Hände sichtbar.
Besonders beeindruckt hat mich die Konstruktion der Gedächtniskirche. Die alte Gedächtniskirche, die 1943 durch einen Bombenangriff teilweise zerstört wurde, ist heute immer noch als Ruine erhalten. Sie wirkt gegenüber dem neuen, viel flacheren Kirchengebäude immer noch wuchtig und imposant. Die 3 Türme der alten Gedächtniskirche sind säulenartig und an jeder Seite dieser Türme befinden sich Fenster, die mit Säulen umrahmt sind. Diese Fenster sind in ihrem unteren Teil quadratisch. Im oberen Teil befindet sich ein Rundbogen, der sich wie ein Halbkreis anfühlt. Über den Fenstern befinden sich spitze, schräge Giebel. Auch die Zerstörungen durch den Bombenangriff bleiben den Händen nicht verborgen. An manchen Stellen wirkt das Gestein brüchig und aufgeraut, an anderen Stellen ist eine Ecke herausgebrochen. Da, wo früher der Eingang war, klafft ein großes Loch.
Auch der Neubau der Kirche hat mich fasziniert, weil er viel ebenmäßiger, gedrungener und nicht so voller Verzierungen ist. Erstaunt hat mich, dass der neue Kirchturm von dem Kirchengebäude abgetrennt steht. Er ist achteckig und jede Seite des Turmes ist verziert mit vielen quadratischen Fenstern. So wirkt jede Seite wie ein großes Quadrat.
Es gab auch Konstruktionsmerkmale an Bauwerken, von denen wusste ich vorher nicht, dass sie überhaupt vorhanden sind. So wusste ich beispielsweise nicht, dass die Siegessäule aus 2 Säulen besteht. Die untere Säule steht auf einem kreisrunden Podest. Nach oben hin wird die Säule flacher und breiter und fühlt sich für mich an wie die Form eines Pilzes. Die obere Säule ist mit Kanonenrohren verziert. Diese haben die Form kleiner Röhrchen und sind mit schlaufenähnlichen Gebilden umrahmt. Diese Schlaufen sind Lorbeerkränze. Die Siegessäule besteht aus unterschiedlichen Materialien. So sind die Kanonenrohre aus Metall und die Säule fühlt sich an wie glatter Sandstein.
Es war für mich sehr erstaunlich, wie die Hersteller der Modelle es geschafft haben, diese unterschiedlichen Materialien zu imitieren. So hat das Modell des Pergamonmuseums ein Glasdach, dessen Material mich an eine Kreidetafel erinnerte. Ich musste an meine Schulzeit denken: um meine Mitschüler zu ärgern, fuhr ich manchmal mit dem Fingernagel über die Tafel. Nun wurde es auch mir endlich möglich, die Quadriga mit meinen eigenen Händen zu sehen. Die 4 Pferde waren sehr detailliert dargestellt mit Kopf, Schwanz und sogar den kleinen Ohren. Sie waren durch Seile, die sich anfühlten wie nicht gespannte Gitarrensaiten, an den Wagen gespannt. Was mich wunderte war, dass der Wagen nur 2 Räder hat. Auch ihre Eisenflügel und den Adler, den die Siegesgöttin trägt, konnte ich erfühlen.
Für mich war der Besuch im Modellpark ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Mir war vorher oft nicht bewusst, wie vielschichtig und formenreich ein Bauwerk sein kann. So wirkte das jüdische Museum auf mich wie eine eckige Schlange, weil es einerseits viele Ecken und Kanten hat, sich aber in Bögen schlängelt und dadurch sehr lang gezogen wirkt. Dieses Bauwerk hat mich sehr erstaunt und verunsichert, weil es mir nicht möglich war, es in eine einheitliche Form zu bringen.
Mal gleiten die Finger über Ecken und Rechtecke dann wieder über Halbkreise. Und plötzlich rutscht der Finger ab und endet in einem spitzen Winkel, weil eine Ecke rausgebrochen ist – als würde Etwas fehlen. Wenn die Hände dann einmal müde wurden, blieb immer Zeit zum Ausruhen und Nachsinnen. Denn meist gab es Bänke oder weichen Rasen in der Nähe der Modelle. Auch der Wissensdurstige erhält im Modellpark Nahrung. So gibt es eine Audio-CD, die man an der Kasse zusammen mit einem CD-Player erhalten kann. Auf dieser CD sind geschichtliche und architektonische Informationen zu verschiedenen Ausstellungsstücken des Modellparks zu hören.
Für mich war der Besuch des Modellparks eine ganz tolle und wichtige Erfahrung. Ich habe viel über unterschiedliche Bauweisen und über den Variationsreichtum von Architektur gelernt. Zusammenhänge, die sehenden Menschen vielleicht schon in ihrer Kindheit klar werden, haben sich für mich ganz neu eröffnet. Denn es gibt im Leben kaum die Möglichkeit, ein Hausdach oder die Spitze eines Kirchturms taktil zu erfassen. Ich kann jedem blinden oder sehbehinderten Menschen diesen Modellpark nur ans Herz legen, wenn er in Punkto Sehenswürdigkeiten nicht länger im Dunkeln stehen möchte.